Ob Vorratsdatenspeicherung, EU-Datenschutz-Grundverordnung oder das neue BND-Gesetz – der Umgang mit Daten ist immer wieder ein zentrales Thema innerhalb der Politik. Auf der einen Seite sollen personenbezogene Informationen besser geschützt werden, auf der anderen Seite will der Staat einen umfangreicheren Zugriff auf Daten, um potenzielle Bedrohungen für die innere Sicherheit frühzeitig zu erkennen und zu stoppen.

Sicherheit durch Überwachung – dieser „Leitspruch“ findet sich in politischen Argumentationen zugunsten eines umfangreicheren Informationszugriffs häufig wieder, wenn auch meist weniger drastisch formuliert. In Verbindung mit der schon weitestgehend unseren Alltag einnehmenden Digitalisierung haben solche Ansätze aber auch die Angst vorm „gläsernen Bürger“ hervorgerufen. Dahinter verbirgt sich die Sorge, dass Regierungen oder Unternehmen durch die Masse an Informationen einen tiefen Einblick in unsere Leben erhalten und zumindest potenziell unser Verhalten gezielt steuern können.

Wer einen Blick hinter die ethischen Kulissen wirft, stößt fast unweigerlich auf die Frage, ob die Steuerung von Verhalten durch Überwachung in der Tat bedenklich wäre oder uns zu moralisch besseren Menschen machen würde.

Moralität durch Überwachung?

Gute Frage: Wann bist Du beispielsweise das letzte Mal zu schnell gefahren, obwohl Du wusstest, dass irgendwo ein Blitzer steht? Überschreiten wir die Geschwindigkeitsvorgaben, dann wohl immer im Wissen oder zumindest in der Hoffnung, nicht erwischt zu werden. Sind wir aber sicher, dass sich vor uns eine Radarkontrolle befindet, halten wir uns an die Vorgaben. Und genau das ist der grundlegende Gedanke von Überwachung: Dass sie als eine Art der Kontrolle zu regelkonformen Verhalten führt. Daran knüpfen sich weitere Fragen: Wie würde sich eine dauerhafte Geschwindigkeitskontrolle auf unser Fahrverhalten auswirken? Und wäre es nicht erstrebenswert, dass sich alle Fahrer an Geschwindigkeitsbeschränkungen hielten?

Dieses Beispiel auf die gesamte Gesellschaft und jegliches Handeln bezogen, mündet wiederum in der Frage: Könnte uns Überwachung zu moralisch besseren Menschen machen? Ja und nein. Selbst die klassischen Moralphilosophen wären sich an dieser Stelle wohl nicht einig. Die Antwort hängt nämlich grundlegend von der angewandten Theorie ab. In diesem Rahmen bieten sich zwei der bekanntesten Ansätze an – die utilitaristische und die deontologische nach Kant.

Exkurs Utilitarismus: Der Nutzen geht vor

Beim klassischen Utilitarismus handelt es sich um eine ethische Theorie mit konsequentialistischer Ausrichtung. Das heißt, dass die Folgen oder Konsequenzen einer Handlung für die moralische Beurteilung von zentraler Bedeutung sind. Als Bewertungsmaßstab dient dabei der aus der Handlung entstehende Nutzen (von lat. utilitas = Nutzen, Vorteil). Jeremy Bentham (1748-1832), der als Begründer des Utilitarismus in Europa gilt, bestimmt diesen Nutzen anhand des Glücks, das  sich durch die Handlung für die betroffenen Menschen ergibt. Ziel ist stets die Maximierung des Glücks, wobei Benthams Theorie stark am Gemeinwohl orientiert ist. Demnach sind Handlungen moralisch gut, wenn sie zum „größten Glück der größten Zahl“ führen oder anders formuliert, den größten Gesamtnutzen erzeugen.

Dieser klassische Utilitarismus birgt allerdings einige praktische Schwierigkeiten. Zum Beispiel sind die Folgen einer Handlung nicht immer im Vorfeld absehbar, sodass sie erst im Nachhinein richtig beurteilt werden kann. Darüber hinaus widerspricht der Utilitarismus zuweilen unseren moralischen Vorstellungen. Denn bei der Bestimmung des Gesamtnutzens aus den Nutzen der einzelnen Individuen spielt die konkrete Verteilung keine Rolle. Das bedeutet, dass eine Benachteiligung von Einzelpersonen oder Minderheiten zugunsten der Glücksmaximierung für die  Allgemeinheit unter Umständen nicht nur moralisch erlaubt, sondern aus utilitaristischer Sicht sogar gefordert wird. Der Einzelne kann also für die Gesamtheit geopfert werden.

Eine neuere Variante des Utilitarismus versucht, diesen Problemen zu entgehen. So wendet der sogenannte Regelutilitarismus das nutzenmaximierende Prinzip nicht auf einzelne Handlungen an, sondern auf die Regelebene. Demnach ist eine Handlung moralisch gut, wenn sie einer Regel entspricht, die den (voraussichtlich) größten Nutzen hat. Der Spielraum wie beim klassischen Utilitarismus, die Menschenrechte einzelner Personen zugunsten der Glücksmaximierung der Allgemeinheit in einer konkreten Situation zu missachten, ist beim Regelutilitarismus nicht mehr gegeben. Aus einem einfachen Grund: Man kann davon ausgehen, dass die Achtung der Menschenrechte als Regel die nützlichsten Folgen hat. Richtet man sein Handeln nach dieser Regel aus, lässt sich die menschenunwürdige Behandlung eines Einzelnen zum Wohle der Allgemeinheit in einer konkreten Situation kaum rechtfertigen, im Gegenteil, sie ist sogar moralisch verwerflich.

Antwort aus utilitaristischer Perspektive

Doch zurück zur Basis: Macht uns Überwachung zu moralisch besseren Menschen? Aus klassisch utilitaristischer Perspektive nach Bentham lässt sich die Frage nicht allgemeingültig beantworten. Man müsste jede Situation einzeln betrachten und danach bewerten, ob durch die Überwachung die allgemeine Glückssumme gesteigert wird oder nicht.

Aus regelutilitaristischer Perspektive hängt die Antwort maßgeblich davon ab, welche Normen und Gesetze in der Gesellschaft herrschen. Unter der Annahme, dass Überwachung zur Einhaltung von Regeln führt, die nicht dem Nutzenprinzip im Sinne der Glücksmaximierung für die Allgemeinheit dienen, müssen Ausspähmaßnahmen wie auch die Gesellschaftsstrukturen im Ganzen als moralisch verwerflich betrachtet werden. In diesem Fall würde uns Überwachung nicht zu besseren Menschen machen, im Gegenteil.

Sofern aber die bestehenden Normen und Gesetze so strukturiert sind, dass sie dem regelutilitaristischen Nutzenprinzip entsprechen und zur Glücksmaximierung beitragen, fällt die Antwort positiv aus. Dienen die Regeln der Gesellschaft dem Allgemeinwohl, kann es nur im Interesse eines Regelutilitaristen liegen, dass sie von so vielen Individuen wie möglich eingehalten werden. Die Überwachung könnte dazu beitragen und uns zu moralisch besseren Menschen machen.

Exkurs Immanuel Kant: Der gute Wille macht‘s

Immanuel Kant (1724-1804) ist sicher einer der bekanntesten deutschen Philosophen und der bedeutendste Vertreter der deontologischen Ethik. Bei dieser Theorie werden Handlungen nicht anhand ihrer Folgen beurteilt, sondern danach, ob sie einer verpflichtenden Regel (griechisch: Deon = das Gesollte, die Pflicht) entsprechen.

Kants Ausgangspunkt ist dabei der gute Wille, der für ihn das einzig wirklich Gute ist. Was damit genau gemeint ist, lässt sich über den Begriff der Pflicht erklären. So verfügt ein Mensch über einen guten Willen, wenn er nicht nur „pflichtgemäß“, sondern „aus Pflicht“ handelt. Das heißt, eine Handlung soll nicht nur regelkonform (pflichtgemäß) sein, sondern muss in bewusster Orientierung am moralischen Gesetz (aus Pflicht) geschehen. So handelt eine Person, die die Wahrheit sagt, nur dann moralisch, wenn sie sich aus Achtung vor dem moralischen Gesetz für dieses Verhalten entscheidet. Lügt sie allerdings nur aus Angst vor einer möglichen Bestrafung nicht, handelt sie zwar pflichtgemäß, aber nicht aus Pflicht und damit auch nicht moralisch.

Was genau ist das moralische Gesetz? An dieser Stelle kommt der berühmte kategorische Imperativ ins Spiel, der in seiner Grundformel fordert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Unter Maximen versteht Kant dabei die Prinzipien, durch die sich der Wille bei seiner Handlungswahl leiten lässt. Eine Maxime wäre beispielsweise „Ich sage immer die Wahrheit“. Ob meine Handlung moralisch ist, lässt sich anhand der Maxime prüfen, die meine Handlungswahl leitet, inwieweit sie im Sinne des kategorischen Imperativs universalisierbar ist. Im Klartext: Könnte sie für alle Menschen gelten und wäre das wünschenswert? Die oben genannte Maxime hält dieser Prüfung stand – es wäre durchaus möglich und zu begrüßen, dass alle Menschen stets die Wahrheit sagten. Die Maxime „Ich lüge, um mir einen Vorteil zu verschaffen“ hingegen erweist sich durch den kategorischen Imperativ als falsch. Schließlich kann ich nicht wollen, dass alle Menschen lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. In diesem Fall könnte man sich nie wieder auf die Aussagen seiner Mitmenschen verlassen.

Antwort aus kantischer Perspektive

Macht uns Überwachung nach Kant zu moralisch besseren Menschen? Eindeutig nein. Grund hierfür ist der gute Wille mit der Unterscheidung zwischen pflichtgemäßen Handlungen und Handlungen aus Pflicht. Wie bereits erläutert, haben nur letztere nach Kant moralischen Wert. In einer Gesellschaft, die regelkonformes Verhalten durch Überwachung sicherstellt, werden nur pflichtgemäße Handlungen gefördert, nicht aber Handlungen aus Pflicht.

Weil bei Kant die Folgen einer Handlung für die moralische Bewertung keine Rolle spielen, würde Überwachung selbst dann nicht zu Moralität führen, wenn die Regeln, deren Befolgung befördert würde, gut oder sogar erstrebenswert wären. Allein der gute Wille, also die bewusste Orientierung am moralischen Gesetz, ist entscheidend für moralische Handlungen. Sobald sich Menschen durch Neigungen oder Gefühle wie Zwang und Angst für bestimmte Handlungen entscheiden, verhalten sie sich nicht moralisch – unabhängig von den beabsichtigten oder eintretenden Folgen.

Man könnte mit Kant sogar so weit gehen, zu sagen, dass Überwachung die Möglichkeit zur Moralität der Menschen an sich untergräbt, indem implizit unterstellt wird, dass man wünschenswertes Handeln durch Ausspähmaßnahmen erzwingen muss. Dadurch spricht man Menschen ihre Mündigkeit und Freiheit zur Selbstgesetzgebung ab, die bei Kant eine wesentliche Rolle spielen.

Fazit

Was lernen wir daraus? Zum einen sollen uns die Ausführungen bewusst machen, dass es in der Ethik keine eindeutige Wahrheit gibt und Urteile immer von den getroffenen Grundannahmen abhängen. Zum anderen sollen sie dazu anregen, sich zu fragen, auf welcher Seite man selbst steht. So ergeben sich aus der Betrachtung vier verschiedene Antworten:

  1. Utilitarismus: Abhängig vom Einzelfall
  2. Regelutilitarismus I: In einer Gesellschaft mit Regeln, die nicht dem Allgemeinwohl dienen, würde uns Überwachung nicht zu besseren Menschen machen.
  3. Regelutilitarismus II: In einer Gesellschaft mit Regeln, die dem Allgemeinwohl dienen, würde uns Überwachung zu besseren Menschen machen.
  4. Kant: Unabhängig von den Regeln der Gesellschaft macht uns Überwachung nicht zu moralisch besseren Menschen.

Jeder Leser kann für sich selbst entscheiden, welche Theorie und Begründung er am überzeugendsten findet. Kantianer haben es leicht: Mit Bezug auf Moralität können sie jegliche Überwachungsmaßnahmen vehement ablehnen. Für Regelutilitaristen wird es schwieriger. Wollen sie durch Überwachung eine moralisch bessere Gesellschaft schaffen, müssen sie nämlich einen Schritt weiter gehen und sich fragen, welche Gesetze und Normen in dem Sinne wünschenswert wären, dass sie dem Allgemeinwohl dienen. Sie sollten also nicht nur Überwachungspraktiken ins Auge fassen, sondern die gesamte Gesellschaftsstruktur. Klassische Utilitaristen müssen jeden einzelnen Fall hinterfragen und hätten damit vermutlich eine Menge zu tun. So bleibt zuletzt die Frage: Wie hältst du es mit der Überwachung und damit einhergehend Deinen Daten?

 

Image credits: magic pictures/shutterstock.com